Lasst uns an Standards statt an Regulierung arbeiten

Lasst uns an Standards statt an Regulierung arbeiten

Die europäische Finanzdienstleistungsbranche beklagt zu Recht die sich ständig schneller drehende Regulierungsschraube. Die EU-Kommission verstärkt den Eindruck, dass Regulierung zum Selbstzweck der fortlaufenden Beschäftigung von Beamten betrieben wird und nicht zum Nutzen von Verbrauchern und Unternehmen.

Der Regulierungsappetit der Kommission mit ihren 33.000 Beamten zeigt sich insbesondere an der ausufernden Praxis, bestehende Richtlinien, wie etwa die MiFID II oder die IDD durch eine Vielzahl von Blackbox-Ermächtigungen zu ergänzen, die die EU-Kommission zum Erlass von Level 2 Verordnungen im unbestimmten Ausmaß befugt.

Vor diesem Hintergrund stößt die Initiative zur Erarbeitung europäischer Standards für Finanzdienstleistungen auf verständliches Misstrauen. „Wir haben doch schon so viele Regeln, warum sollen wir jetzt noch selbst weitere obendrauf legen?“ So reagieren viele, denen ich von der Gründung des neuen Technical Committee 475 Finance beim europäischen Komitee für Normung CEN erzähle.

Ja wir haben bereits viele Regeln, aber diese sind häufig die falschen, mit denen das Gegenteil des Gewollten erreicht wird. So haben bspw. ausufernde Informationsvorschriften dazu geführt, dass Verkaufsprospekte von Finanzdienstleistungsprodukten hunderte Seiten stark sind, der Kleinanleger das Wesentliche aber nicht erkennen kann. Berater sollen die Nachhaltigkeitspräferenz des Anlegers ermitteln und dabei die Taxonomieverordnung und die Offenlegungsverordnung erläutern.

Durch solche Gesetze werden Anleger abgeschreckt und das Ergebnis ist eine Kapitalmarktbeteiligung der Europäer, die gerade einmal einem Drittel der Beteiligungsquote der US-Bevölkerung entspricht. Das Fernbleiben vom Finanzmarkt führt tatsächlich bei vielen Sparern zu einem Armutsrisiko.

Eine übervorsichtige Anlagementalität, die die Risiken von langen Ansparprozessen am Kapitalmarkt überbewertet, führt zu schmerzlichen Ertragseinbußen beim wichtigen Ziel des Aufbaus einer ergänzenden privaten Altersvorsorge.

Aktuell wird in Europa mit der Retail Investment Strategy die nächste Regulierungsinitiative verfolgt, welche das Ziel hat, das Vertrauen der Anleger in den Kapitalmarkt und die angebotenen Anlageberatung zu stärken. Den Beleg, dass dies durch diesen neuen Bürokratieschub gelingen kann, bleiben sowohl EU-Kommission als auch das Parlament schuldig.

Tragen wir selbst Mitverantwortung dafür, dass die aktuelle Situation so unerfreuliche ist?

Leider ja! Wir haben die Regulierung von Beratungsabläufen und Produktinformationen den Technokraten und Beamten der EU-Kommission überlassen. Keiner dieser Beamten hat je ein Beratungsgespräch mit einem Anleger durchgeführt. Viele von Ihnen haben selbst keine Affinität gegenüber Kapitalanlagen und stehen diesen eher ablehnend und skeptisch gegenüber.

Andere Industriezweige sind klüger vorgegangen. Sie haben insbesondere technische Qualitätsstandards eigenständig in ankerkannte Normungsverfahren im gemeinsamen Konsens der Marktteilnehmer entwickelt. Durch eine freiwillige aber häufig flächendeckende Umsetzung dieser Standards wurde eine gesetzliche Regulierung entbehrlich oder aber der Industriestandard wurde zur Gesetzesgrundlage. Es gilt die Regel: Wer die Norm macht, hat den Markt. Gerade China nutzt daher die Vorreiterschaft bei der Normierung, um Märkte für sich zu erschließen.

Es ist bekannt, dass anerkannte Standards ein hervorragendes Instrument sind, um das Vertrauen der Verbraucher in Produkte und Dienstleistungen zu stärken

Standards machen Produkte und Dienstleistungen vergleichbar. Sie definieren Qualitätsmaßstäbe und helfen bei der Suche nach bedarfsgerechten Angeboten. Auf diese Weise tragen Normen zu mehr Zuverlässigkeit, Sicherheit und Qualität bei. Sie helfen den Unternehmen, grenzüberschreitend im europäischen Binnenmarkt und international zu agieren und neue Absatzmärkte zu erschließen. Gemeinsame

Normen sorgen für den Abbau von Handelshemmnissen, unterstützen die Öffnung der Märkte und steigern so die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft.

Gleichzeitig ist die Standardisierung von Dienstleistungen ein geeignetes Instrument zur Erweiterung des europäischen Binnenmarktes. In kaum einem anderen Dienstleistungsbereich ist das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Anbieter so

notwendig wie im Finanzdienstleistungssektor. Wer einen Vermögensaufbau zum Beispiel für seine Altersvorsorge plant, muss darauf vertrauen können, dass Entscheidungen, die er jetzt trifft, sich aber erst in 30 Jahren oder später auswirken, von vornherein auf der richtigen Grundlage getroffen werden und laufend überwacht werden können.

Daher ist es verwunderlich, dass für den Bereich der Finanzdienstleistungen an der Schnittstelle zum Anleger noch keine europäischen Standards entwickelt wurden.

Die Etablierung des CEN TC 475 Finance soll ein erster Schritt in diese Richtung der selbstbestimmten Eigenregulierung sein. Ziel ist es, Standards zu entwickeln die tatsächlich geeignet sind das Vertrauen der Anleger in Kapitalmarktinvestitionen zu stärken. Wir wollen mit marktgerechten Lösungen voran gehen anstatt schlechten Gesetzen hinterherhecheln. Wenn wir gegenüber der Politik belegen können, dass wir uns selbst auf den richtigen Weg machen, müssen wir nicht ständig den nächsten Regulierungsangriff fürchten, sondern kommen endlich vor die Welle.

Unser erstes Ziel ist die Entwicklung eines Standards für die Erhebung und den Vergleich nützlicher Kundendaten. Die Erhebung von Daten muss dem Kunden dienen. Heute wird sie zu häufig nur dafür genutzt, durch vorgegebene Antwortkategorien Haftungsrisiken der Berater auszuschließen.

Der Gesetzgeber fordert, dass eine vom Berater empfohlene Kapitalanlage oder Versicherung „geeignet“ sowie den Wünschen und Bedürfnissen des Kunden entsprechen soll. Um das zu beurteilen, braucht jeder Berater eine verlässliche und vollständige Datengrundlage. Dies ist vergleichbar mit dem Blutbild, das der Arzt erhebt. Erst wenn er weiß welche Blutwerte sein Patient hat, kann er problematische Abweichungen erkennen und eine geeignete Therapie empfehlen.

In Deutschland haben wir bereits sehr gute Erfahrungen mit dem „DIN Standard 77230 Basis-Finanzanalyse für Privathaushalte“ gemacht. Berater, die diesen Standard anwenden, können ihrem Kunden aufzeigen, dass ihre Empfehlungen einer objektiv anerkannten Analyse entsprechen und nicht mit Interessenkonflikten belastet ist. Das persönliche Geschäftsvolumen der Berater, die diesen Standard einsetzen ist gestiegen. Wir wollen diesen Standard im CEN/TC 475 auf eine europäische Grundlage heben.

Diejenigen die dabei mitwirken wollen, sollten sich jetzt an ihre nationalen Normungs- Einrichtungen wenden. Die erste Arbeits-Gruppe wird am 18.09.2024 ihre erste Sitzung haben. Ich würde mich über eine breite Teilnahme unserer Branche in Europa freuen.

Der Autor ist Martin Klein Chairman des CEN/TC 475 Finance am CEN Vice-Chairman von FECIF und Geschäftsführender Vorstand von VOTUM

Die Deutsche Originalverfassung des Beitrags ist hier verfügbar


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